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21.04.2022
Ratgeber

Prototyp gegen den Personalmangel

Empathisch, neugierig und pfiffig. Das sind die besten Eigenschaften für einen Prototypen. Der von AWO-Einrichtungsleiterin Nicole Dittmann-Kröger ist weiblich und heißt Lara Bergstein. Die Neubrandenburgerin ist die erste duale Studierende in der Logopädie des lokalen Kreisverbands. Die Geschichte einer Win-win-Situation.
von Jule Fuchs

Logopädaie Studentin Lara, AWO-Einrichtungsleiterin Nicole Dittmann-Kröger Logopädaie Studentin Lara, AWO-Einrichtungsleiterin Nicole Dittmann-Kröger

Seine Gefühle taumeln. Beim ersten Mal fand er sie seltsam. Beim zweiten Termin verliebt sich der kleine Patient in Lara Bergstein. Und er ist nicht allein. Die Studierende öffnet fast jedes Herz ihrer Patient:innen. „Ein Glücksgriff”, sagt die Einrichtungsleiterin der Logopädie des AWO Kreisverband Neubrandenburg-Ostvorpommern e.V.

Bundesweit fehlen Fachkräfte im Gesundheitswesen. Unternehmen und Verbände mühen sich um Talente, zeigen sich kreativ, experimentieren mit neuen Modellen. Die angehende Logopädin Lara ist eine Probandin. „Unser Prototyp gegen den Personalmangel”, wie Nicole sie fürsorglich nennt. Mit der ersten dual Studierenden will sich die Praxis ihre eigene Fachkraft formen – fachlich flankiert von der EU|FH. Bereits auf die erste Begegnung von Lara und Nicole folgte eine einvernehmliche Entscheidung. Der Beginn eines Experiments. Wie es sich zutrug, erzählen Nicole und Lara selbst.

Der Arbeitsmarkt für Logopäd:innen ist leer gefischt. Auch in Neubrandenburg?

Nicole: Logopäd:innen sind eine seltene Spezies. Die Situation in Ostvorpommern umreißt stellvertretend die bundesweite Gesamtlage: Es gibt keine arbeitssuchenden Logopäd:innen. Wir können nur bei anderen Praxen um Fachkräfte buhlen. Und das machen wir nicht. Unterdessen schwillt das Therapiebedürfnis bei unseren Patient:innen weiter an. Weniger Fachkräfte, mehr Behandlungen – diesen Teufelskreis wollen und müssen wir durchbrechen. Deshalb kooperieren wir mit der EU|FH in Rostock.

Ihr therapiert euren Fachkräftemangel, indem ihr selbst ausbildet.

Nicole: Genau. Und das ist herausfordernd. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es neben der EU|FH in Rostock nur noch Logopädieschulen in Greifswald und Schwerin – also weniger als eine Handvoll. Die Ergotherapie-Praxis der AWO begleitet parallel einen duale EU|FH-Studierende. Das Konzept verfolgen wir mit Lara. Wir begleiten sie während ihrer 3,5 Studienjahre, untermauern ihr theoretisches Wissen mit praktischen Erfahrungen, formen und integrieren sie in unser Team. Nach ihrem Abschluss verstärkt sie uns für weitere fünf Jahre.

Klingt nach einer Win-win-Situation. War es Liebe auf den ersten Blick?

Lara: Ein bisschen schon. Oder ein sehr glücklicher Zufall. Ich stöberte auf de EU|FH-Stellenportal und stolperte über die Logopädie der AWO. Das las sich wie für mich gemacht – und war sogar in Neubrandenburg, wo meine Familie lebt und ich zuhause bin.

Die Stelle war noch frei. Ich bewarb mich und wurde eingeladen. Nicole und das Team waren sofort sympathisch. Ich entschied mich prompt.

Nicole: Für mich war es wie Liebe auf den ersten Blick. Mit ihrer offenen, wissbegierigen Art nahm uns Lara sofort ein. Ein Glücksgriff.

Wie läuft die Kooperation zwischen EU|FH und AWO?

Nicole: In den ersten beiden Semestern orientieren sich die Studierenden  in zweiwöchigen Praktika. Lara tauchte in unseren Praxisalltag ein und bestärkte unseren positiven Eindruck: Lara fragt alles mögliche über Rezepte, zu Patient:innen und Therapien. Ihre Neugierde ist goldwert. Mittlerweile sieht sie die Arbeit und erledigt diese. Allein, wenn sie kann, oder mit unserer Hilfe.

Lara: Es ist ein Geben und Nehmen. Nicole schießt viel Vertrauen vor. Ich darf fast überall mit, jede Therapie begleiten. Klar, ich halte mich dort im Hintergrund. Hinterher stille ich meinen Wissensdurst, wenn Nicole und ihr Team  mir alles erklären. Manchmal mangelt es an Zeit, aber das gehört dazu.

Im dritten Semester geht es richtig los. Dann absolviere ich zunächst während des Studiums ein Praktikum in der EU|FH unter Anleitung von lehrenden Logopäd:innen und arbeite anschließend mehrere Wochen hintereinander in der Praxis. Ich kann Patient:innen über eine längere Zeitspanne kennenlernen, begleiten und therapieren. Diese Chance möchte ich ausschöpfen.

Die AWO übernimmt meine Studiengebühren. Dafür möchte ich mich nach meinem Abschluss bei Nicole beruflich verwirklichen.

Also gibt es ein Happy End…

Nicole: Hoffentlich sind wir erst am Anfang. Mit Lara weht ein frischer Wind bei uns. Sie lockert auf, bringt neue Impulse und unverstellte Perspektiven auf Patient:innen. Ein Beispiel: Ich begleite einen Patienten seit mehreren Jahren mit viele Ups und Downs. Lara fand in kurzer Zeit einen Zugang zu ihm, machte ihn neugierig. Jetzt läuft es wieder viel besser.

Das EU|FH-Studium ist fachübergreifend, der Praxisalltag auch?

Nicole: Bei uns schon. Mehr als die Hälfte unserer Patient:innen kommt mit einem multiplen Störungsbild, das sich nicht auf die Logopädie beschränkt. Für solche Fälle kooperieren wir eng mit einer Ergotherapie- und einer Physiotherapie-Praxis. Wir therapieren dieselben Patient:innen fachübergreifend, und beraten uns telefonisch, wie wir knifflige Krankheitsbilder kurieren. Auch Schulen melden sich bei uns. Sie brauchen zum Beispiel die aktuellen Therapieberichte von bisher therapierten Kindern, um Förderbedarfe innerhalb der Schulzeit abklären zu können.

Ist Logopädie eigentlich eine Frauendomäne?

Lara: An der EU|FH studieren fast nur junge Frauen.

Nicole: In Neubrandenburg gibt es einen Logopäden. Er führt seine eigene Praxis. Niemanden, den wir für uns gewinnen können. Das ist schade. Ich würde gern einen Logopäden in unserer Praxis einstellen. Männer bringen ganz andere Eigenschaften mit als Frauen. Aber vielleicht begleiten wie im nächsten Jahr einen männlichen Studierenden von der EU|FH.


Bildnachweise:
© EU|FH | Henrik Bartels (5)
© 4. Bild: iStock | jeangill

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